Kundenzufriedenheit in Deutschland? So steht es um die Customer Centricity bei deutschen Unternehmen
Customer Centricity: Der Begriff „Servicewüste Deutschland“ geisterte in den 90er-Jahren durch deutsche Medien. Geprägt hat ihn damals der Unternehmensberater Hermann Simon. Was hat sich seitdem verändert? Eine aktuelle Online-Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov lässt tief blicken: Fast 40 Prozent der befragten Kunden fühlen sich heute nicht gut genug betreut.
Hat sich wirklich nichts geändert in fast 30 Jahren? Und warum? Wir haben den Vertriebsexperten und Geschäftsführer der leadtributor GmbH Philipp von der Brüggen gefragt.
„Der Kunde ist König“ heißt in der globalisierten Welt „Customer Centricity“. Auf deutsch: Der Kunde ist in den Mittelpunkt gerückt. Ja, war er das nicht schon immer?, werden Sie fragen. „Ja, er war und ist es, in dem Sinne, dass man alles tut, um den Kunden für die eigene Marke zu gewinnen: Man betreibt Marktforschung und versucht, die Werbebotschaften entsprechend zu formulieren.
Alles scheint auf die Gewinnung von Leads konzentriert zu sein“, erklärt Philipp von der Brüggen, Geschäftsführer der leadtributor GmbH. „Aber das ist eine altbackene Art, den Kunden wahrzunehmen.
Denn es gibt zwei extrem wichtige Phasen, in denen Kunden noch unzureichend bedient werden:
» die Zeitspanne vor dem Kauf
» die lange Phase nach dem Kauf
Da versagen die meisten deutschen Unternehmen immer noch.“
Beispiel: Digitalisierung im Autohandel
Nehmen wir zum Beispiel des Deutschen liebstes Kind: das Auto.
Unlängst beklagte Skoda-Digitalchef Peter Lorenzen, dass 80 Prozent der Kunden bis zum persönlichen Kontakt im Autohaus dem Händler unbekannt bleiben. Dabei gibt es weit vor dem Besuch im Autohaus zahlreiche Kontaktpunkte, die die meisten nicht nutzen: potenzielle Kunden gehen auf Websites, hinterlassen digitale Spuren, informieren sich, laden Material herunter. Da müsse man sie abholen, so Lorenzen, sonst mache es ein anderer. Beispielsweise Neuwagenportale.
„Diese passive Haltung können sich Händler nicht mehr leisten“, bestätigt Philipp von der Brüggen.
„Erstens, weil Produkte in der Qualität austauschbarer geworden sind. Keiner hat wirklich einen massiven technologischen Vorsprung vorzuweisen. Also wird der Service immer mehr zum Unterscheidungsmerkmal.“
Langsame Reaktionszeiten – vor dem Kauf und danach – können einen beträchtlichen Image-Schaden für die Marke verursachen. Brüggen zitiert wieder das Beispiel bei der Digitalisierung im Autohandel: „Wenn ich heute ein Auto kaufen möchte, gehe ich auf die Website des Herstellers, vielleicht gebe ich sogar meine Daten und bitte um einen Termin. Wenn ich nicht binnen Minuten eine Antwort bekomme, versuche ich es bei einem anderen Händler oder einer anderen Marke.“
Und selbst wenn der Kunde nicht explizit einen Vertriebstermin wünscht, fängt am „Touchpoint Website“ guter Kundenservice an: „Da muss ich als Unternehmen sofort aktiv werden und ihm etwas anbieten für seinen Besuch: nämlich relevanten Content“, so Brüggen.
Die Welt dreht sich schneller, die Angebote lauern überall im Web, der Kunde ist dank Digitalisierung Schnelligkeit gewöhnt – und ist ungeduldiger.
Datenintegration bricht Silos auf – Digitalisierung Marketing und Vertrieb
Wobei wir beim Stichwort „Digitalisierung Marketing und Vertrieb“ wären. Denn die, so Brüggen, sei nicht nur ein Instrument, um Daten schneller zu transportieren.
„Digitalisierung stellt einen Paradigmenwechsel dar. Sie erlaubt es nicht nur, Kunden relevantere Botschaften zu schicken, sondern sie bricht alte Unternehmensstrukturen auf, macht Schluss mit Silo-Denken: Die Unterscheidung zwischen Marketing und Vertrieb ist heute zum Beispiel vollkommen obsolet.“
Inwiefern? Früher, so Brüggen, war der Verkaufsprozess linear: Marketing und Werbung liefern Leads, die werden an den Vertrieb weitergeleitet, und der schließt den Deal ab. Fertig! Das bildet der berühmte Sales Funnel ab. Die Erfahrung zeigt aber, dass genau an dem Punkt, an dem die Kundenreise vermeintlich zu Ende ist, sie eigentlich erst begonnen hat. Denn niemand sammelt so viele Informationen über den Kunden wie der Vertriebsmitarbeiter.
Egal ob es sich dabei um einen Händler oder um einen Außendienstmitarbeiter handelt. Diese Informationen müssen umgehend in die Datenbanken des Unternehmens zurückfließen. Im Gegenzug muss der Hersteller den Händler oder Außendienstmitarbeiter ständig, auch während der Verkaufsverhandlungen, mit aktuellen Daten unterstützen, die ihm beim Verkauf helfen. Das sind nicht nur Daten zum Produkt, sondern auch zum Kunden: Hat er sich für andere Produkte interessiert?
Falls der Kunde ein Unternehmen ist gilt es herauszufinden, ob es relevante Unternehmens-News, die den Kauf unterstützen könnten: Fusionierungen, neue Chefs, Umsatzzahlen… Das gilt auch für Cross- und Upselling:
Je mehr der Hersteller über den Kunden weiß, desto besser und schneller – quasi ad hoc – kann er ihm weitere Produkte anbieten. „Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Marketing, Vertrieb und Kundenservice: Die Marketingabteilung übernimmt zunehmend die Entwicklung des Leads, bis ganz kurz vor dem Abschluss. Der Vertrieb wiederum übernimmt viele Funktionen des After Sales, hat ein Ohr am Kunden, tauscht sich mit dem Kundenservice aus. Dank moderner Data Warehouse-Lösungen haben künftig alle Abteilungen Zugriff auf dieselben Daten – in Echtzeit.“
Kundenzentrierung: Medienbrüche sind Tabu
Auch die Produktentwicklung und Preisbildung könnten unmittelbar von der vollkommen digitalen Verfolgung der Customer Journey profitieren: „Auch hier müssen Abteilungsbarrieren heruntergerissen werden: Welche Erkenntnisse haben Kundenservice und Außendienstmitarbeiter gewonnen? Entspricht das Produkt, so wie es ist, noch den Kundenbedürfnissen?“
Kurz: Wenn wir heute von „Customization“ in der Produktion sprechen, so gilt das nicht nur für modische Sneakers.
Dieser Trend wird zunehmend auch andere Industriebereiche erfassen, so Brüggen. „Zeigen Kundendaten, dass eckige Waschbecken beliebter sind als runde? Entsprechend muss sich das Angebot ändern. Dafür ist es (überlebens-)notwendig, dass diese Daten ungehindert durch die Abteilungen fließen.
Und das ist heute keine Science-Fiction mehr. Dank Digitalisierung kann das mittlerweile in Echtzeit passieren. Um dies zu gewährleisten, darf es allerdings keinen Medienbruch geben. Wer mit Zetteln, Excel-Listen und Notizen anfängt, hat verloren.“
Fazit: Am Ende steht das Kundenerlebnis mit der Marke
Und warum tun wir das Ganze? „Letztendlich führt dieser digitalisierte Prozess zu einer Verschmelzung von Kundenwünschen und Marke“, meint Brüggen. „In der Age-of-You wird es zunehmend wichtiger, die Aufmerksamkeit und Markentreue zu binden. Und den Kunden zum Teil der Wertschöpfungskette zu machen. Kunden werden sozusagen zu Ko-Kreatoren eines Produkts. Das ist Kundenservice in seiner höchsten und absolutesten Prägung.“
Und wie sieht es derzeit in deutschen Unternehmen aus mit der 360-Grad-Sicht auf den Kunden?
„Da haben wir noch einen langen Weg vor uns. Dabei rate ich allen, Digitalisierung als Anstoß zu nehmen, um die gesamte Struktur des eigenen Unternehmens zu verändern. Digitalisierung ist absolut Chefsache.“